De brevitate vitae

Nach Seneca ist das Leben nicht kurz, schlechter Gebrauch macht es dazu. Die Geschäftigen verlieren ihr Leben auf der Jagd nach der Befriedigung von sinnlichen Begierden oder in Gier und Ehrgeiz. Der Träge nimmt in seiner Tatenlosigkeit den Tod vorweg. Wer in Muße philosophiert, lebt. Dieses richtige Leben ist, was auch immer seine Zeitspanne sein mag, lang genug.

Zum Beweis führt Seneca in kräftiger Sprache viele Beispiele aus seiner Zeit an, wie Menschen ihr Leben verschwenden, wozu der Verfall der Sitten reichhaltiges Material bot. Dem stellt er das erfüllte Leben von Weisen als anstrebenswert gegenüber.

Schon seinen Zeitgenossen galten Senecas Leben und Lehre als widersprüchlich. In den ersten Jahren der Regierungszeit Neros (54–62 n. Chr.) leitete Seneca als einer der reichsten und mächtigsten Männer zusammen mit Sextus Afranius Burrus die Politik des römischen Weltreichs. Keine Muße, sondern geschäftiges Leben in extremem Wohlstand. Die Verhältnisse Senecas veranlassten Theodor Mommsen zu der Bemerkung: „der vor allem sich selber predigte“. Seneca äußert sich wiederholt in seinen Schriften zu diesem Widerspruch, er sieht sich selbst als jemand, der nach Weisheit strebt und von diesem Ziel entfernt ist. „Was uns noch zu tun bleibt, ist mehr als was wir bereits hinter uns haben; aber es ist schon ein großer Fortschritt, den Willen zum Fortschritt zu haben. Dieses Bewußtseins darf ich mich rühmen: ich will und will mit ganzer Seele.“ „Wer [sage ich] so zu handeln sich vornimmt, entschlossen ist und den Versuch dazu macht, nimmt seinen Weg zu den Göttern, und wahrlich, wenn er auch nicht darauf bleibt, schlägt doch rühmliches Wagniß ihm fehl.“ Das Auseinanderklaffen von Lehre und Leben Senecas ändert nichts an der Richtigkeit seiner Mahnungen. Es beweist nur, wie schwer es ist, gut zu leben.

Sokrates

Im antiken Griechenland hatte Sokrates einen großen Ruf der Weisheit. Eines Tages kam jemand zu dem großen Philosophen und sagte zu ihm:

– Weißt du, was ich gerade über deinen Freund gehört habe?

– Einen Moment, antwortete Sokrates. Bevor du es mir sagst, möchte ich dich mit den drei Sieben prüfen.

– Die drei Siebe?

– Ja, fuhr Sokrates fort. Bevor du etwas über die anderen erzählst, ist es gut, sich die Zeit zu nehmen, um zu filtern, was du meinst. Ich nenne es die Prüfung der drei Siebe. Das erste Sieb ist die WAHRHEIT. Haben Sie überprüft, ob das, was Sie mir sagen wollen, wahr ist?

– Nein, ich habe es nur gehört.

– Sehr gut! Du weißt also nicht, ob es wahr ist. Wir machen weiter mit dem zweiten Sieb, dem der GÜTE. Was du mir über meinen Freund erzählen willst, ist das gut?

– Oh nein! Ganz im Gegenteil.

– Du willst mir also, fragte Sokrates, schlechte Dinge über ihn erzählen und bist dir nicht einmal sicher, ob sie wahr sind? Vielleicht kannst du den Test des dritten Siebes, den der NÜTZLICHKEIT, noch bestehen. Ist es nützlich, dass ich weiß, was du mir über diesen Freund erzählen willst?

– Nein, eigentlich nicht.

– Also, schlussfolgert Sokrates, ist das, was du mir sagen wolltest, weder wahr, noch gut, noch nützlich. Warum wolltest du mir das dann sagen?